Stand: Oktober 2024

I. Worum geht es?

Das Herkunftslandprinzip bezeichnet Regelungen, die im gemeinsamen europäischen Binnenmarkt gelten und den grenzüberschreitenden Dienstleistungs- und Warenverkehr ordnen. Dieses Prinzip schützt geschäftsmäßige Anbieter davor, eine Vielzahl nationaler Regelungen einhalten zu müssen. Grundsätzlich gelten stattdessen die Regelungen des jeweiligen Herkunftslandes. Herkunftsland ist i.d.R. das Land, in dem der Diensteanbieter seinen Sitz hat.

Im Bereich der Medien hat dieses Prinzip eine besondere Bedeutung: Es soll freien Informationsfluss innerhalb Europas ermöglichen und Mediendiensteanbietern die nötige Rechtssicherheit zur Entwicklung neuer Geschäftsmodelle bieten. Für audiovisuelle Mediendienste, also für das Fernsehen und Online-Medien, die im Rahmen einer wirtschaftlichen Tätigkeit oder von einem öffentlich-rechtlichen Träger angeboten werden, bildet die Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste (2010/13/EU – AVMD-Richtlinie) dafür die europarechtliche Grundlage. In Deutschland ist das Herkunftslandprinzip für den Bereich der Online-Medien durch § 3 Digitale-Dienste-Gesetz (DDG) umgesetzt. Dieses enthält nur wenige Ausnahmen vom grundsätzlichen Vorrang des Rechts des jeweiligen Ursprungslandes, z.B. im Jugendmedienschutz.

II. Was bedeutet das für die Praxis?

Die AVMD-Richtlinie und der Digital Services Act (DSA) legen u.a. gemeinsame Mindeststandards für die Beschränkung von audiovisuellen Mediendiensten aus Gründen des Jugendschutzes fest. Im Gegensatz zur AVMD-Richtlinie, die jeweils ins nationale Recht der Mitgliedsstaaten überführt werden muss, gelten die Vorschriften des DSA als Verordnung in Deutschland unmittelbar.

Grundsätzlich gilt: Um den freien Dienstleistungsverkehr nicht zu beeinträchtigen, haben die gesetzlichen Vorgaben des Landes Vorrang, in dem der Diensteanbieter seinen Sitz hat. Ein Anbieter mit Sitz in Deutschland muss sich also grundsätzlich an deutsches Recht und die darin verankerten EU-Richtlinien halten, nicht jedoch – zusätzlich – auch an die rechtlichen Vorgaben anderer EU-Mitgliedsstaaten, in denen sein Angebot bestimmungsgemäß abgerufen werden kann.

Wie wird im Einzelfall ermittelt, welches Recht anwendbar ist?

Zunächst muss das „Sitzland“ bestimmt werden. Dies ist gemäß § 2 Abs. 2 DDG üblicherweise das Land, in dem sich die Hauptniederlassung befindet oder in dem ein wesentlicher Teil des mit der Bereitstellung des audiovisuellen Mediendienstes betrauten Personals tätig ist. Agiert der Anbieter demnach maßgeblich in bzw. aus Deutschland, so gilt deutsches Recht.

Ist das Sitzland hingegen ein anderes EU-Mitgliedsland und wird der Dienst auch für Deutschland angeboten, so gilt zwar ebenfalls zunächst deutsches Recht, denn das Unternehmen ist unabhängig von seiner Herkunft Diensteanbieter i.S.d. DDG bzw. Anbieter i.S.d. JMStV. Allerdings verdrängt das Recht des Herkunfts- bzw. Sitzlandes das deutsche Recht dann, wenn letzteres im Vergleich strenger ist und deshalb das Erbringen von Telemediendiensten behindern oder einschränken würde (§ 3 Abs. 2 DDG).

Der Digital Services Act (DSA), inkl. seiner Regelungen zum Jugendmedienschutz, gilt zusätzlich auch für Diensteanbieter mit Sitz im EU-Ausland, sofern sie ihre Dienste innerhalb der Europäischen Union anbieten. Für eine wirksame Aufsicht und eine erfolgreiche Durchsetzung des DSA müssen Anbieter von Vermittlungsdiensten mit Sitz außerhalb der EU einen hinreichend bevollmächtigten gesetzlichen Vertreter in einem EU-Mitgliedsstaat benennen. Dieser Vertreter muss über die notwendigen Befugnisse und Ressourcen für die Zusammenarbeit mit den zuständigen Behörden verfügen. Innerhalb dieser Vorgabe greift für die Aufsicht wieder das Herkunftslandprinzip. Ausnahme sind die sogenannten Very Large Online Platforms (VLOPs) und Very Large Online Search Engines (VLOSEs). Hier übernimmt die EU-Kommission die Aufsicht.

Gibt es Ausnahmen von diesem Prinzip?

Die AVMD-Richtlinie lässt Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs unter bestimmten, sehr eng auszulegenden Voraussetzungen ausnahmsweise zu, z.B. aus Gründen des Jugendschutzes (Art. 3 Abs. 4). Deutschland hat von dieser Ausnahmebefugnis in § 3 Abs. 5 DDG Gebrauch gemacht. Relevant ist insbesondere dessen Nr. 1a (u.a. Jugendschutz): Für einen Anbieter mit Sitz im EU-Ausland gilt abweichend von § 3 Abs. 2 DDG also unter bestimmten Voraussetzungen trotzdem deutsches Recht, wenn dieses dem Schutz der in § 3 Abs. 5 DDG genannten Rechtsgüter dient.

Jedoch stellt das Herkunftslandprinzip einen so wichtigen Grundpfeiler für den Binnenmarkt dar, dass die Hürden für dessen Durchbrechung in der Praxis nur schwer zu überwinden sind. So muss eine ernste und schwerwiegende Gefahr für benannten Schutzgüter bestehen. Die zu ergreifenden Maßnahmen müssen zudem verhältnismäßig sein. Dabei spielt es beispielsweise eine Rolle, ob das Angebot im Sitzland selbst zulässig ist sowie wie intensiv und nachhaltig der Verstoß gegen deutsches Recht ist.

Können deutsche Behörden gegen einen Anbieter aus dem EU-Ausland vorgehen?

Bevor behördliche Maßnahmen gegen einen Anbieter im EU-Ausland ergriffen werden können, muss das Sitzland zuvor fruchtlos zur Ergreifung eigener Maßnahmen aufgefordert werden sowie die Europäische Kommission über die zu ergreifenden Maßnahmen informiert werden (§ 3 Abs. 5 S. 2 DDG). Dies gilt jedoch u.a. nicht für die Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten. Verstöße gegen deutsches Jugendmedienschutzrecht sind in der Regel Ordnungswidrigkeiten. Die zuständige Landesmedienanstalt kann zumindest theoretisch unmittelbar gegen das Unternehmen mit Sitz in einem anderen EU-Mitgliedsland vorgehen. Seit einigen Jahren wird genau dies versucht: Deutsche Landesmedienanstalten gehen gegen Portale vor, die pornografische Inhalte in Deutschland zugänglich machen, ohne ein Altersverifikationssystem zu nutzen, das sicherstellt, dass nur Erwachsene Zugriff auf die Inhalte haben. Die Rechtmäßigkeit dieses Vorgehens wurde bereits durch deutsche Gerichte bestätigt, da Minderjährigen „ernste und schwerwiegende Gefahren durch freien Zugang zu pornografischen Internetseiten“ drohen. Die sogenannten Netzsperren, die von den Medienanstalten nach langen Verfahren erwirkt wurden, konnten von den Portalanbietern jedoch bislang relativ problemlos umgangen werden.

Online-Angebote von Diensteanbietern außerhalb Deutschlands, die nach deutschen Jugendmedienschutzgesetzen verboten sind, können durch die Bundeszentrale für Kinder- und Jugendmedienschutz (BzKJ) auf die Liste der jugendgefährdenden Medien aufgenommen werden. Grundlage dieser sogenannten Indizierung ist ein rechtsstaatliches Verfahren. Der genaue Ablauf des Verfahrens ist hier zu finden. Eine Indizierung von Online-Inhalten bedeutet, dass das Angebot in den Suchergebnissen der deutschen Suchmaschinenanbieter, z.B. google.de, nicht mehr angezeigt wird.

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